Hamburg ist nicht Caracas

Eine Love-Parade in Berlin Mitte der 1990er Jahre – damals noch als politische Veranstaltung durchgeführt – verursachte ca. € 200’000  Sachschaden. Auch wenn Sachschäden nicht zu begrüssen sind, sie sind Teil eines Grossanlasses und im Verhältnis zu den Einnahmen verkraftbar. Denn eine Veranstaltung verursacht nicht nur Schäden, sondern vor allem erhöhten Umsatz, der versteuert wird.[1]

Die Riots gehören zum Gesamtgeschehen des Protests, ob man das will oder nicht. Sie setzen den Kontrapunkt zur Elbphilharmonie, wo Trump, Putin, Erdoğan und Merkel die Ode an die Freude hören. […D]er Aufruhr [ist]nicht unpolitisch, sondern eine Grenzposition des Politischen. Er verweigert die Kommunikation, und er kommuniziert diese Verweigerung.8

Die kapitalistisch-neoliberale Weltordnung wie sie die G20 vertritt, ist ganz und gar nicht friedliebend und gewaltfrei: 20’000 Kinder sterben täglich an vermeidbaren Krankheiten, hauptsächlich, weil ihnen der Zugang zu sauberen Trinkwasser fehlt; eine Milliarde Menschen leben von $2 pro Tag in extremer Armut; ca. 70 Millionen Menschen sind Flüchtlinge;die US/NATO Kriege – Afghanistan, Irak, Libyen, etc. – haben über 1.5 Millionen Tote gefordert und den Terrorismus massiv angefacht. All dieses Elend ist Teil einer Wirtschaftspolitik, die eine winzige Elite von 0.01% zu immer grösseren Reichtum führt, während die Mehrheit (die 99%) das Nachsehen hat und ca. 20% ins Elend stürzt — Umweltzerstörung nicht eingerechnet. Die Ungerechtigkeit ist eklatant, direkte und indirekte Gewalt Teil des Systems. Dass an Demonstrationen gegen diesen G20-Gipfel, der sowohl symbolisch für die derzeitige, weltweite Herrschaftsstruktur steht als auch direkt für den Zustand der Welt verantwortlich ist, auch militante Protestformen auftreten, ist nicht weiter verwunderlich. Es sind lediglich 1% oder weniger der Demonstrant*innen, die Gewalt angewendet haben — hauptsächlich gegen Sachen. Die grosse Mehrheit der Protestierenden war friedlich.

Dennoch ereifert sich das Establishment über Krawalle in Hamburg. Gewalt von Demonstrierenden wird nicht immer verurteilt, sondern im Gegenteil gar gutgeheissen. Sandro Benini im Tagesanzeiger am 29. Juni:

Allmählich stellt sich die Frage, inwiefern selbst gewaltsamer Widerstand gegen eine antidemokratische und vollkommen unfähige Regierung nachvollziehbar, wenn nicht legitim ist.[2]

Hamburg ist nicht Caracas. Jene, die sich in Hamburg über Gewalt empören, sind und waren bezüglich Venezuela sehr schweigsam. Niemand forderte ein hartes Durchgreifen der Regierung oder harte Strafen gegen die Randalierer. Gewalt von Demonstranten wird vom Establishment toleriert, wenn diese gegen jene Regierungen gerichtet ist, die sich dem globalen Wirtschafts-System entgegenstellen.

Die entfesselte Gewalt und ungehemmte Brutalität verurteile ich auf das Schärfste“[3], „Wer so handelt, der stellt sich außerhalb unseres demokratischen Gemeinwesens“.[3], „Es gibt offensichtlich Menschen, die keinerlei Interesse daran haben, dass in der Sache etwas erreicht wird, sondern die in ihrer eigenen Nachbarschaft blindwütig einfach etwas zerstören.“[4],

Angela Merkel zu den Krawallen in Hamburg

Auch Angela Merkel kennt zwei Arten von Gewalt und ‘demokratischem Gemeinwesen’. Der entfesselten Gewalt steht die „entwichene Gewalt“ der Dieselmotoren gegenüber. Während in Hamburg kein einziger Toter zu beklagen ist, wären Forschern zufolge 38’000 Todesopfer vermeidbar gewesen, hätten Autobauer Abgasgrenzwerte für Dieselmotoren eingehalten.“[5] Die Kanzlerin, die wie die “gut eingewiesene Sprecherin” der deutschen Autohersteller gewirkt[6] hatte, setzte sich jedoch jahrelang gegen strengere Grenzwerte für Stickoxide ein, um der Autoindustrie ihre Wünsche zu erfüllen —  auf Kosten der Gesundheit der Bürger*innen. „Wer so handelt, … “ .

Gegen entfesselte Gewalt weit schlimmer als jene in Hamburg könnte Merkel jedoch sehr viel tun: Die Schliessung von Ramstein[7]. Ramstein ist für US Drohneneinsätze unverzichtbar, Drohneneinsätze, bei denen nachweislich weitgehend Unschuldige ums Leben gekommen sind: 1.147 Menschen mussten sterben, damit 41 Terrorverdächtige ausgeschaltet werden konnten. Ramstein zu schliessen ist für die Bundesregierung kein Thema.

Es war völlig falsch, den G20-Gipfel in Hamburg auszurichten und damit eine Provokation herbeizuführen.[8]

Einen G20 Gipfel in Hamburg auszurichten, wo Krawalle und Tumult eines schwarzen Blocks zu erwarten sind, hat einen grossen Vorteil für die Organisatoren: Krawalle lenken ab. Sie lenken ab von den Inhalten, sie lenken ab von den Zehntausenden, die friedlich protestierenden, und sie geben eine gute Kulisse, um dem Volk vorgaukeln zu können, die ‘freie Welt’ zu vertreten. Von Attac über Gewerkschaften und Kirchengruppen bis zum Jugendrat gegen G20, es gibt eine breite Bürgerbewegung gegen G20 und deren Agenda. Dank den Krawallen wurden diese jedoch kaum beachtet. Auch die friedlich Demonstrierenden waren bis auf einzelne Youtube clips nicht im Fokus. Ein randalierender „schwarzer Block“, der „welcome to hell“ skandiert, Autos anzündet und Geschäfte plündert, ist jedoch eine wunderbare Kulisse für die Gastgeberin Merkel, sich als ‘friedliebend’, ‘Gewalt ablehnend’, ‘verantwortungsbewusst’ darzustellen, nicht nur um die Agenda der G20 zu verschleiern, sondern wohl auch im Hinblick auf die Wahlen im Herbst. Mit dieser Kulisse sind „die Guten“ und „die Bösen“ für den einfachen Bürger leicht zu erkennen …

Hamburgs als Ort für den G20 Gipfel scheint daher nicht trotz, sondern wegen des ‘schwarzen Blocks’ ausgewählt worden zu sein.

Hamburg belegt, dass und wie die Polizei systematisch paramilitarisiert wurde und jetzt auch so eingesetzt wird.[9]

Neben dieser bewusst gewählten Kulisse, die Krawalle vorhersehbar machte, scheint die Bundesregierung in Hamburg den Ausnahmezustand geprobt zu haben: Kilometerbreite Verbotszonen, Abräumen von gerichtlich zugelassenen Camps, Wegweisung akkreditierter Journalisten, etc. Dennoch war die Stadt – wie Thomas Seibert in der TAZ schreibt – trotz Aussetzung der rechtsstaatlichen Ordnung nicht unter die politisch-polizeilich gewünschte Kontrolle zu bringen.8

Wie viele V-Leute ausserdem im Einsatz waren, um sicherzustellen, dass wir auch wirklich jene Bilder geliefert bekommen, die es für erfolgreiche Meinungsmache braucht, werden wir wohl nie erfahren. Dass es sehr wenige Verhaftungen, aber sehr viel Polizeigewalt gab, ist jedoch ein Indiz.

Die Weltprobleme werden an einem inszenierten G20-Gipfel nicht gelöst. Denn das zu Grunde liegende Wirtschaftssystem wird nicht in Frage gestellt. Der Profit ist für die Reichen, die Kosten für die Steuerzahlenden. Und …

„Es gibt offensichtlich Menschen, die keinerlei Interesse daran haben, dass in der Sache etwas erreicht wird …

 

1 Im Falle der Love Parade beliefen sich die Schäden lediglich auf 20 Cents pro Teilnehmer*in.

2 http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/standard/maduro-setzt-auf-allesodernichts/story/28957489

3 https://www.welt.de/politik/deutschland/article166434594/Merkel-sagt-nach-Krawallen-Opferentschaedigung-zu.html

4 http://www.faz.net/aktuell/g-20-gipfel/g-20-treffen-merkel-sagt-opfern-der-krawalle-entschaedigung-zu-15097470.html

5„Rund 38.000 Todesfälle wären Forschern zufolge vermeidbar gewesen, hätten Autobauer Abgasgrenzwerte für Dieselmotoren eingehalten.“, Besonders gefährdet seien EU-Bürger.“, Zeit online, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2017-05/abgase-dieselfahrzeuge-stickoxide-tote-studie

6 http://www.n-tv.de/wirtschaft/Schaute-Merkel-beim-Abgasbetrug-weg-article19733668.html

7 Drohnenkrieg-Prozess: Ohne keine Drohnenangriffe, Zeit online, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/drohnenkrieg-ramstein-jemen-opfer-klage

8 http://www.taz.de/Flora-Anwalt-Andreas-Beuth-ueber-die-G-20-Ausschreitungen/!5425733/

9 http://www.taz.de/Kontroverse-Gewalt-und-die-Linke/!5426218/

4 thoughts on “Hamburg ist nicht Caracas

  1. Spannend.. aber teilweise agree to disagree. Was wäre denn ein realistischer, demokratischer und fairer Ansatz die Weltprobleme zu lösen resp. zu debatieren?

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  2. Die Partikularinteressen-Vertreter*Innen der G20 — Merkel für die Deutsche Wirtschaft, Trump für Goldmann-Sachs und den Militär-Industriellen Komplex, etc. — sind nicht daran interessiert, die Weltprobleme zu lösen, sondern lediglich daran, ihrer Klientel (der 0.01%) Dividendengewinne zu sichern. Die Vorstellung, dass jene Staatschefs sich für die Interessen des Volkes einsetzen, ist die Folge gelungener Medienkampagnen. Solange sich ein Filz von Politik, Wirtschaft und Medien an der Macht hält, werden die Probleme nur derart angegangen, dass wieder Profite für die Elite erwirtschaftet werden. Die Arte Doku „Konzerne als Retter?“(https://www.wr.de/kultur/fernsehen/doku-fragt-ist-tiefkuehlpizza-fuer-nairobi-entwicklungshilfe-id210516085.html) zeigt dieses Prinzip sehr deutlich.
    Abgesehen von diesem Grundproblem, wäre UNO wohl jenes Gremium, das einer demokratischen Legitimation zu Lösung der Weltprobleme am nächsten kommt.

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